Die Sowhatka- Expedition
Feuchte Nebelschwaden stiegen aus der Flußniederung auf. In unbestimmter Ferne schrie ein Seeadler. Die Reisenden froren. Das Brennholz wurde knapp und der frühe Herbstbeginn mit seinen frostigen Nächten stellte ein weiteres Vordringen in das Gebiet von Sowhatka in Frage. Die Lebensmittelvorräte gingen zur Neige. Da ertönte ein Entsetzensschrei vom Fluß her. Die Boote waren weg! Sie mußten sich im Laufe der Nacht losgerissen haben. Hinkelmann, der Leiter der Expedition, berief eine sofortige Lagebesprechung ein. Die weiblichen Teilnehmer, allesamt Engländerinnen, schlugen vor, die Reise zu Fuß fortzusetzen. Hinkelmann und andere aber waren dagegen. Sie wußten, daß es an ihnen sein würde, das Gepäck zu tragen. Cocodrillo, der Italiener, forderte die sofortige Umkehr. Da sich niemand rührte, lief er einen Hügel hinauf und begann, um Hilfe zu rufen. Malrue, der Franzose, regte an, man solle sich in Form der Buchstabenfolge SOS aufstellen und darauf hoffen, von einem Flugzeug gesehen zu werden. Hinkelmann zögerte. Ein alter Schwede, dessen Namen niemand kannte, meinte in gleichmütigem Ton, die Expedition sei sowieso am Ende. Malamut konnte nicht zu seiner Meinung befragt werden. Er war gerade in den Hügeln unterwegs, wo er Spuren ausgestorbener Tiere verfolgte. Die Nacht kam und man rückte um ein armseliges Feuerchen zusammen. In den Gesichtern spiegelte sich stummes Entsetzen. Wie lange würden sie noch zu essen haben? Und dann? Nacheinander richteten sich die Blicke auf den feisten Hinkelmann. Das furchtbare Wort Kannibalismus lag unausgesprochen in der Luft. Hinkelmann wurde nervös. Da kam Malamut von seinem Ausflug zurück. Sofort erfaßte er die Situation, setzte sein gewinnendstes Lächeln auf und nahm an Hinkelmann`s Seite Platz. Dann begann er, in aller Ruhe an dessen Ohrläppchen zu knabbern.Ernst Reyer, 2011