Im Eismeer

Hervis ging an Deck und stellte fest, daß das Schiff im Eis eingeschlossen war. Das konnte nicht weiter verwundern, hielten sie doch seit geraumer Zeit Nordkurs und der Schiffskalender war schon vor Wochen über Bord gegangen. Gut möglich, daß schon bald Weihnachten war. Mißmutig ging Hervis daran, das Frühstück zu bereiten. Der Aal, den sie am Vortag gefangen hatten, ergab drei ansehnliche Stücke, die er nun in der Pfanne briet. Ein etwas strenger Duft verbreitete sich und bald kamen Mervis und Jervis hervor, um zu frühstücken. Kauend stellte Mervis fest, daß das Seemannsleben doch auch seine guten Seiten habe. Jervis wiegte zweifelnd den Kopf und fand, daß der Aal zu wenig fett war, wenn man bedachte, daß es nun Winter geworden war und man viel Fett brauche, um der Kälte zu widerstehen. Hervis aber blickte unverwandt auf den Kopf des Aals, der auf dem Tisch lag. Die beiden anderen, neugierig, was so Besonderes an dem Kopf sei, sahen auch hin. Der Kopf hatte blutunterlaufene Augen und öffnete in regelmäßigen Abständen sein Maul. Bei genauem Hinsehen brauchte man nicht allzuviel Fantasie, um zu erkennen, daß er, tonlos, das Wort „Skorbut“ formte. Hervis, Mervis und Jervis erstarrten. Seit Jahren waren sie nun schon auf den Spuren des sogenannten Neunten Ozeans unterwegs und hatten unzählige Gefahren ausgestanden, aber ein Vorzeichen von solch düsterer Art, von einer derartig schnörkellosen Bedrohlichkeit raubte ihnen, für den Augenblick zumindest, jeden Mut. Jervis packte den Aalkopf und warf ihn durch das Bullauge auf das Eis hinaus. Dort rutschte er umher, fortwährend sein Maul auf und zuklappend, als hätte er noch nicht genug Unheil von sich gegeben. Da zwängte Mervis seinen Kopf hinaus und rief dem unseligen Ding ein Wort zu, so schaurig und furchtbar, daß es hier nicht wiedergegeben werden kann. Der Aalkopf hielt in seinem Treiben inne, schloß das Maul und fror ein.

Den Dreien war nun der Appetit vergangen. Verstimmt gingen sie ihren täglichen Pflichten nach und kein heiteres Lied kam über ihre Lippen. Der Eispanzer hielt das Schiff fest umschlossen und die Temperaturen sanken weiter. Man saß jetzt in jeder freien Minute rund um den rotglühenden Ofen und lauschte dem leisen Gelächter, das wohl von dem Blinden Passagier kam, der, wie Jervis nicht müde wurde zu behaupten, irgendwo auf dem Schiff versteckt sein mußte.

So verging die Zeit und allmählich wurden die Nahrungsmittel knapp. Mervis übernahm es, die Vorräte zu rationieren. Jeder von ihnen bekam eine Sardine, eine halbe Karotte und einen Becher heißes Wasser pro Tag. Wenn sie das Gefühl hatten, es sei Sonntag (und das hatten sie ziemlich oft), gab es einen Tropfen Rum pro Mann und Wassertasse, worauf für kurze Zeit ein Anhauch von Behagen durch die Kajüte zog. Hervis, selbst jetzt noch auf äußere Formen erpicht, deckte jedesmal den Tisch und achtete streng darauf, daß Besteck und Servietten korrekt angeordnet waren.

Die Wochen vergingen und unter das Geheul der Schneestürme mischte sich das hungrige Gebrüll umherziehender Polarbären. Das Deck war mit Eis überzogen. Hervis, Mervis und Jervis saßen in der Kajüte und spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Das Gespenst des unausweichlichen Endes durch Mangel an Nahrung schwebte, in Gestalt eines redenden Aalkopfes, über ihnen. Seufzend erhob sich Mervis, um die letzten drei Sardinen aus der Vorratskiste zu holen. Geschwächt, wie er bereits war, kostete es ihn einige Mühe, den Deckel anzuheben. Da aber entfuhr ihm ein Ausruf der Überraschung! Die Kiste, in der er nichts weiter als eine fast leere Sardinendose erwartet hatte, war voll von Büchsen mit Fleisch, Gläsern mit eingemachten Früchten und Schokoladetafeln. Obenauf befand sich eine Kiste mit Zigarren und darauf ein Zettel, auf dem stand: „Fröhliche Weihnachten wünscht – der Blinde Passagier“.

Ernst Reyer, 2001