Ernst Grissemann und das Würstchen

ORF  Ö1  21.1.2012

Staunen über das Weltbild

"Angerührt bin ich von einigen Dingen: ein beginnender blühender Baum im frühen Frühjahr rührt einen an, oder ein Kunstwerk. Wie die nervösen Stränge vom Auge in das Herz oder in die Seele gehen, das weiß ich nicht – aber sie tun es." Ernst Grissemann.

"Die Stimme", wie der einstige Radiomacher, Miterfinder von Ö3 und langjährige Hörfunkintendant in seiner Rundfunkzeit genannt wurde, ist nicht nur ein Mann des Hörens, sondern auch des Sehens. Der Anblick eines Bildes, eines Kunstwerkes etwa, vermag ihn auf unvermutete Gedanken zu bringen, er kann berühren oder tiefe Einsichten vermitteln, in Schrecken versetzen - oder einfach überraschen:



"Es gibt einen Maler in Tirol, der heißt Ernst Reyer, von dem habe ich mir kolorierte Bleistiftzeichnungen gekauft - und eine davon stellt einen großen Tisch dar. Auf diesem Tisch steht ein Würstchen mit Beinen und spielt Geige. Vis à vis von diesem Geige spielenden Würstchen sitzt ein sehr ratlos dreinblickendes Paar, das auf dieses Würstchen blickt. Diese beiden - und das sehr selbstbewusst Geige spielende Würstchen - haben mich beeindruck. Ich habe mir gedacht, das kann passieren im Leben, man sitzt da, denkt an nichts Besonderes - und plötzlich steht ein Geige spielendes Würstchen vor dir, und du hast keine Ahnung, was das alles bedeuten soll!"


Verschobener Realitätssinn der Welt

Soeben hat Ernst Grissemann zusammen mit seinem Sohn Christoph, bekanntlich gleichfalls Moderator, jedoch mit beträchtlich unorthodoxerer Berufsauffassung, ein Buch herausgegeben. Es heißt "Klappe, Santa" und enthält gesammelte Skurrilitäten rund um das Thema Weihnachten.



Im Gegensatz zu seinem urban-umtriebigen Sohn Christoph lebt Ernst Grissemann zurückgezogen in Maria Enzersdorf im Süden Wiens. Bisweilen bestreitet er öffentliche literarische Lesungen, meistens aber schlägt er sich daheim mit weit profaneren Medien herum. Nicht selten kann Ernst Grissemann die darin abgebildete Welt kaum verstehen.



Wenn die Welt mutwillig zugrunde gerichtet wird, dann hat sich irgendwo der Realitätssinn gewaltig verschoben, meint er. Wenn Würstchen Geigen spielen, dann wird die Wirklichkeit neu definiert, Absurdes wird vom Beobachter ungläubig als Tatsache wahrgenommen.


Das Unfassbare als Herausforderung

Dem Medienkonsumenten Ernst Grissemann, dem das Weltgeschehen via Zeitungen, Funk und Fernsehen ins Haus geliefert wird, geht es nicht anders als den beiden Würstchen-Betrachtern im Bild des Tiroler Künstlers Ernst Reyer. Staunend blickt er auf das Weltbild, das sich ihm bietet und hört die Schlagwörter, die ihn umschwirren: verrückt-spielende Finanzmärkte, drohende Rating-Agenturen, rettende Schirme, permanente Krisengipfel, Gefährdung des Globus durch den Egoismus von Nationen. Dazu kommt noch die Kakophonie der oft selbst ernannten Experten, die Ernst Grissemann verstört.



Bei akuter Ratlosigkeit wirft Ernst Grissemann einen Blick auf das Bild des Würstchens, das unbeirrt auf seiner Geige fiedelt. Die Betrachtung des Bildes von Ernst Reyer bringt Ernst Grissemann die gesuchte Klarsicht: Die Welt ist für ihn nicht leicht fassbar. Doch das Werk lässt sich auch so interpretieren: Das Unfassbare kann als Herausforderung betrachtet werden, wenigstens ab und zu sollte unmöglich Scheinendes versucht werden. Kunst ist imstande, Wahrheiten zu offenbaren, die vom Tagesgeschehen nicht überboten werden können.

Gestaltung: Christa Eder, 15.12.2011