Die Einfahrt zum Helenen- Sund

Die Einfahrt zum HELENEN - SUND, dem eisfreien Zugang zur Hauptinsel der CLOTHILDEN, lag vor ihnen. Hervis, ein schlechter Steuermann, wurde von Jervis abgelöst. Es galt nun, vorsichtig durch den Kanal und das Gewirr von Inseln zu steuern, ohne von Konkurrenten entdeckt zu werden. Hier, auf den CLOTHILDEN, so hieß es, suchten alle möglichen Leute nach dem Zugang zum Neunten Ozean. Jervis, der darauf bestanden hatte, mit der „SCHWALBE“ (so hieß das Schiff zur Zeit, im Wechsel mit anderen Namen, der Geheimhaltung wegen) durch die Inselgruppe zu fahren, meinte, als dänische Wrackhändler getarnt würden sie am wenigsten auffallen. Hervis hatte zu bedenken gegeben, daß die Nordroute, um die Inseln herum, da oft von stürmischen Wettern heimgesucht, ein unauffälligeres Passieren der Eilande ermöglicht hätte. Mervis aber, dem manchmal Kontakt mit festem Land recht lieb war, hatte sich auf Jervis`s Seite geschlagen und somit war Hervis überstimmt gewesen. An Backbord wie auch an Steuerbord ragten vereiste Berge auf. Das Fahrwasser war mit treibenden Eisschollen bedeckt. Es roch nach Schnee. Jervis, immer in Gefahr, plötzlich einzunicken, wurde von Hervis durch gelegentliches Kitzeln wachgehalten. Mervis ging nach unten, um ein wenig zu lesen. ALARIC MOMP`S (des verschollenen Forschers) berühmtes Standardwerk über den NEUNTEN OZEAN war seine Lieblingslektüre und er las darin, wann immer er konnte. Er schlug den umfangreichen Band an einer beliebigen Stelle auf und las: „Hier bin ich aber derselben Meinung wie mein einstiger Kollege MOORLUND, der ein unbekanntes Staatswesen im Gebiet des Neunten Ozeans vermutete und dafür auch den einen oder anderen Beleg zu besitzen glaubte. Leider aber ging MOORLUND`S Hab und Gut bei einem Sturm über Bord“. Mervis, schläfrig geworden, nickte ein.

Stunden später, im gleichförmigen Licht der aktuellen Jahreszeit (welche, wußte keiner an Bord), stieg Mervis, noch schlafbenommen, an Deck. Hervis lehnte in merkwürdiger Haltung an der Steuerbordreeling. Er schien gefroren. Als Mervis das Ruderhaus betrat, mußte er feststellen, daß auch Jervis, die Fäuste um die Griffe des Ruders gekrallt, völlig erstarrt war. Ein Blick auf den Kompass beruhigte Mervis: Jervis hatte Kurs gehalten. Die Durchfahrt hatte sich in der Zwischenzeit allerdings auf das bedenklichste verengt, sodaß die felsigen Ufer auf beiden Seiten bedrohlich nahe schienen. Mervis ging nach unten, um belebende Getränke für seine Kameraden zu holen. Es schien dringlich, den kommenden Gefahren in voller Mannschaftsstärke entgegentreten zu können. Und tatsächlich: Nach Einflößen von Rum und anderen Elixieren begannen sowohl Hervis als auch Jervis, Lebenszeichen von sich zu geben, wenngleich auf wunderliche Art. Hervis, noch an der Reeling lehnend, bekam sehr feuchte Augen und sang drei Strophen eines weitgehend und berechtigterweise unbekannten Liedes. Jervis wiederum begann, kaum aufgetaut, wild herumzusteuern, wobei er die Augen rollte. Zum Glück weitete sich indessen der Wasserweg nach beiden Seiten zu einer Art See. Kein Zweifel. Dies war der Helenen- Sund. Auf dem voraus liegenden Ufer stieg eine kleine Rauchsäule zum Himmel. „Gelobt sei der HERR DER HERINGE!“ riefen alle Drei.

Die Überquerung des Gewässers verlief in heiterer Stimmung. Im Näherkommen entpuppte sich die Rauchsäule als eine Rauchsäule, die aus einer offenbar mit Treibholz errichteten kleinen Hütte stieg. Nun warf Mervis den Anker aus. Hervis und Jervis fierten die Jolle zu Wasser, man sprang hinein und ruderte an Land. Oh, endlich wieder einmal an Land zu stehen, festen Boden unter den Füßen zu haben! Heiteren Sinnes eilte man auf die Hütte zu. Zwar eine Hütte nur, aber doch auch das erste Zeichen für das Vorhandensein einer bisher unbekannten Zivilisation im Gebiet des bisher unbekannten NEUNTEN OZEANS! Jervis, der vorausging, blieb plötzlich stehen und deutete wortlos auf das kleine Gebäude, das eigentlich ein wenig wie ein Kiosk aussah. Die ihnen zugewandte Seite wies, in ihrer oberen Hälfte, so etwas wie geschlossene Läden auf. Darüber war ein Schild angebracht, auf dem mit unbeholfener Hand „NÖRDLICHSTE FISCHBRATEREI DER WELT“ geschrieben stand. Mit einem Mal schwangen die Läden auf und ein bärtiger Alter wurde sichtbar. Er schwenkte mit der einen Hand eine rauchende Pfanne, von der ein appetitlicher Duft nach Bratfisch ausging und wischte sich die andere an einer fleckigen Schürze ab. Aus zahnlosem Mund kamen zwar schwer verständliche, jedoch eindeutig zum Näherkommen auffordernde Laute. Mervis erkannte ihn sofort. Es handelte sich zweifelsfrei um ALARIC MOMP, den verschollenen Forscher. Es stellte sich heraus daß er schon vor Jahren hier gestrandet war und mangels anderer Möglichkeiten eine Fischbude gegründet hatte. Mervis, Hervis und Jervis waren seine ersten Gäste.

Ernst Reyer, 2008